Institut für Ur- und Frühgeschichte Universität Freiburg
Das Glockenbecher-Phänomen
- Ein Seminar |
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von M. Benz, W. Justi und S. van Willigen |
»Die Glockenbecherkultur«: Wer im Sommersemester 1992 mit den traditionellen Erwartungshaltungen, ein Referat zu seinem abgegrenzten Thema zu halten und dann unterzutauchen, dieses Seminar besuchte, hatte sich schwer getäuscht. Bald stellte sich heraus, daß Typologie und Chronologie dem komplexen Phänomen der Glockenbecherkultur nicht gerecht wurden. Ein zweites Seminar, das die theoretische Diskussion der Forschung miteinbezog, war notwendig. Aus 'Glockenbecherkultur' wurde 'Glockenbecherphänomen' und im Wintersemester 1993/94 ein zweites Seminar angesetzt. Arbeitsintensiv und nah an der Forschung waren beide Seminare. Der erste Teil im Sommersemester 1992 beschränkte sich auf die Definition der Keramikgruppen, die Aufarbeitung der Regionalgruppen und den Versuch einer Interpretation. Bei der Fortsetzung im Wintersemester 1993/94 bildete die Besprechung forschungsgeschichtlich wichtiger Aufsätze neben der Aktualisierung der Materialaufnahme einen zusätzlichen Schwerpunkt. Grundlegend waren die Arbeiten aus dem Sommersemester 1992, die einen direkten Einstieg in die Diskussion um das Phänomen ermöglichten. Obwohl die strikte Definition der verschiedenen Kategorien von einigen Teilnehmern als einschränkend empfunden wurde, war sie doch hilfreich, wesentliche Elemente kurz und eindeutig herauszuarbeiten. 'Materialschlachten' der traditionellen Art wurden dadurch verhindert. In den Seminarsitzungen erfolgte die Darstellung der Regionen nach Themengebieten. Die einzelnen Aspekte, wie Siedlungen, Gräber, Metallurgie und nicht zuletzt Ökologie waren jeweils Thema einer Seminarssitzung. Dabei stellte jeder Teilnehmer entsprechende Funde und Befunde aus seiner Region vor. So war jeder gefordert, nicht nur physisch präsent zu sein, sondern auch Diskussionsbeiträge aus seinem Arbeitsgebiet einzubringen und sich aktiv an der Diskussion zu beteiligen. 'Auf Durchzug schalten' war also nicht drin. Nicht ganz unschuldig waren hier auch die unberechenbaren Fragen des Diskussionsleiters, die Träumern keine Chancen ließen. Mühelos wurden Brücken zwischen Portugal bis nach Kleinpolen und von Dänemark nach Italien geschlagen; allein der Sprung über den Kanal auf die Britischen Inseln schien geistige Überwindung zu fordern. Die gute Auswahl der forschungsgeschichtlich relevanten Aufsätze verschaffte einen Überblick der unterschiedlichen Interpretationsansätze. Bei der kritischen Analyse dieser Texte kamen nicht nur festgefahrene Forschungsmeinungen ins Wanken, sondern es wurde einmal mehr deutlich, daß man gerade bei diesem Thema 'näher an der Forschung ist als bei jedem anderen Seminar'. So waren Kreativität und Phantasie aller Seminarteilnehmer gefordert. Positiv wirkte sich auch die Zurückhaltung des Seminarleiters aus: Die Diskussion wurde unter den Studenten und nicht für den Dozenten geführt. Die Kombination aus Literatur- und 'Materialseminar' erforderte einen hohen zeitlichen Aufwand. Nicht selten beanspruchte die Vorstellung der Aufsätze einen zu großen Rahmen, so daß die Besprechung der Regionalgruppen oft zu kurz kam. Den 'letzten Kick' des bisher Erarbeiteten brachte die Exkursion nach Südfrankreich. Nur hier konnten in erreichbarer Entfernung Siedlungen, Gräber und interkulturelle Beziehungen zu gleichzeitigen Kulturgruppen heute noch im Gelände nebeneinander beobachtet werden. Vor Ort wurden z.B. die extreme Lage einiger Siedlungen oder die Abgrenzung gegenüber anderen endneolithischen Gruppen klarer. Motivierend waren die Führungen der französischen Archäologen sowie deren Art Wissenschaft zu vermitteln und sie zu erleben. In Hinblick auf folgende Seminare soll die Veröffentlichung der wissenschaftlichen Ergebnisse gleichzeitig auch Anregung sein, andere Themengebiete in ähnlicher Form zu behandeln. Besonders eignen sich hierfür Phänomene, die zeitlich begrenzt sind, materielle Kultur mit einer Innovation verbinden und zusätzlich zur theoretischen Diskussion in der Forschung angeregt haben. Möglichkeiten wären zum Beispiel: Linearbandkeramik / produzierende Wirtschaftsweise; Fürstensitze / Hierarchisierung der Gesellschaft oder Frühmittelalter / Stadtentwicklung, um nur einige zu nennen. Das Zusammenspiel der neuen Art von Seminar, die Exkursion und der Ausblick, unsere Ergebnisse einer breiteren Leserschaft zugänglich zu machen, motivierten ein alternatives Modell zum Glockenbecherphänomen - das 'Crèmade-Modell' - zu erarbeiten. |